Wo der Tag mit einer Umarmung beginnt


Pfleger Deen mit Frau Hiller

6.10 Uhr im noch menschenleeren Foyer des „SeniorenWohnen Buchenau“. Draußen Dunkelheit und Frost. Drinnen strahlende Lichterketten, ein Christbaum, überall Kerzen und Adventsschmuck. Würden vor der Schwingtür nicht Körbe voller Dreckwäsche stehen, könnte dies als Weihnachtsmarkt durchgehen.   

Eingang Seniorenheim BRK mit Weihnachtsdeko

Ich bin mit Deen verabredet, einem aus Guinea stammenden, vierundzwanzigjährigen Pflegehelfer. In dieser zum Bayrischen Roten Kreuz gehörenden Einrichtung arbeitet er seit zwei Jahren. Gleich beginnt seine Frühschicht und ich darf dabei sein. „Erstmal heißer Kaffee!“, schlägt er vor und führt mich in die Kantine. Unsere Wachmacher schlürfen wir auf dem Weg zu seinem eigentlichen Arbeitsplatz, dem Wohnbereich „Jexhof“. Im Büro streift er den Kittel über, hakt das Diensthandy ein und ist fortan (zumindest für mich) ein anderer.

zwei Pfleger bereiten Medikamente vor

Während er hinter der Panoramascheibe Medikamente sortiert, muss ich an unser erstes Treffen denken. 2020 brachte ihn jemand zu einer Gartenparty mit – einen kaum Deutsch sprechenden Schwarzafrikaner, der seinem Gegenüber nicht in die Augen sehen konnte, so schüchtern schien er zu sein. Doch als er gefragt wurde, weshalb er nach Deutschland geflohen sei, antwortete er so höflich wie bestimmt: „Das ist privat.“

Was mir im Wohnbereich „Jexhof“ als Erstes auffällt: Die Mitarbeiter umarmen sich zur Begrüßung. Und sie umarmen auch die Bewohner. Die Geste steht für vieles, was ich noch beobachten werde. Deens Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich plaudere, während sie das Frühstück für die Bewohner vorbereiten, heißen Rosalia, Jasmina, Felipe. Sie stammen aus Bulgarien, Bosnien, Brasilien. Der offenkundig verbreitete Anfangsbuchstabe B ihres Herkunftslandes ist, wie mir Jasmina beim Brötchenschmieren lachend versichert, nicht das ausschließliche Kriterium, hier arbeiten zu wollen: „Es herrscht gute Stimmung. Vielleicht, weil im Team so viele junge Leute sind?“ Sie stellt Thermoskannen auf einen Servierwagen, sagt, dass sie gelernte Arzthelferin und nun „Inko-Beauftragte“ sei. „Inkontinenz“, erläutert sie ernst und zwinkert dann doch. „Noch nicht bemerkt, dass es hier viel angenehmer riecht als in anderen Heimen?“ Bevor ich mir dessen bewusst werden kann, bittet mich Deen, ihn zu begleiten.

Pfleger Deen

28 hochbetagte, oft mehrfach erkrankte Damen und Herren bewohnen die „Jexhof“-Etage. An den Türen kleben Hunde- oder Katzenfotos. Diese Recherche ist mit der Heimleitung abgesprochen. Aber welchen Bewohnern ich in ihren Zimmern begegnen darf, das hat Deen eingefädelt.

„Herr Behn ist Jahrgang 1937. Er wurde in Bayern, Entschuldigung, in Niedersachsen geboren, hat Pflegegrad 2 und bewohnt ein Doppelzimmer. Seine Frau ist leider vor drei Wochen verstorben.“ Während Deen mich Fakten wie diese wissen lässt, zieht er Herrn Behn Strümpfe an, zieht er ihm danach Schuhe an, während Herr Behn auf dem Bettrand sitzt und dem vor ihm Knieenden Hinweise gibt, gegebenenfalls auch Details verbessert – siehe Niedersachsen.

Deen hilft Patientem beim Schuhe anziehen

Die Szene nur als Foto könnte missverstanden werden, könnte die Vertrautheit, auch die Ebenbürtigkeit unterschlagen, die sich sofort mitteilt. Ich sehe, wie ein junger Afrikaner einem alten weißen Mann hilft, auf die Beine zu kommen. Außerdem sehe ich, dass sie Respekt füreinander haben, lockeren, aus dem Pflegealltag und auch aus ihren so unterschiedlichen Biografien herrührenden Respekt. Was ich in Herrn Behns Doppelzimmer sehe, ist völlig normal und zugleich, denke ich, ist es ein kleines Wunder.     

In einer aktuellen Umfrage hat das „Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung“ die Arbeitssituation internationaler Pflegekräfte untersucht. Ergebnis: viele berichten von rassistischen Anfeindungen, Demütigungen, bis hin zu körperlichen Übergriffen. Der diesjährige „Nationale Diskriminierungs- und Rassismus-Monitor“ bestätigt dies und nennt Zahlen: So würden hierzulande 63 Prozent der schwarzen Frauen und 62 Prozent der schwarzen Männer mindestens einmal pro Monat ihrer Hautfarbe wegen beschimpft oder herabgewürdigt werden.

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Auf meine Frage nach den Gründen für seine Toleranz lächelt Herr Behn sein feines Lächeln: „Ich komme aus der Versicherungsbranche, hatte mit allerlei Klienten zu tun. Deen ist höflich und hilfsbereit. Und wenn es sein muss, energisch. Auch meine Frau hat ihn sehr geschätzt.“

Mit Blick auf das leere, zweite Bett dankt er dem „lieben Gott“, dass ein großer Wunsch in Erfüllung ging und seine Frau als Erste gehen durfte, dass nicht er sie mit dem „Schlammassel“ allein lassen musste.

Und Deen steht neben ihm, strahlt Ruhe aus.

drei Pfleger

Danach treffen wir Frau Hiller. Schick gemacht erwartet sie uns in ihrem Appartement. Deen linst auf einen Zettel und hebt wieder an zur Vorstellungsrede: „Frau Hiller wurde am 14.6.1933 geboren. Zu uns kam sie am 22. Januar 2025. Sie ist eine nette, sehr liebe Frau. Sie hilft uns und wir helfen ihr.“

Weil das ein wenig einstudiert wirkt, frage ich, ob die Heimleitung dahintersteckt. „Das ist meine Idee! Du bist von der Presse, musst unsere Bewohner kennenlernen“, stellt Deen klar.

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Hellwach berichtet Frau Hiller aus ihrem Leben. Flüchtlingskind aus Schlesien ist sie gewesen. In Germering hat sie zuletzt gewohnt, in einem Haus mit Garten, das zum Verkauf steht. Stolz zeigt die 92-Jährige Fotos ihrer beiden Söhne, der vier Enkel, der zwei Urenkel und deren Partnerinnen.

„Zu Hause ging es nicht mehr. Ständig wurde mir schwindelig. So sind nun mal die Gegebenheiten“. Sie betont, losgelassen zu haben, keine Trauer über verlorene Güter zu empfinden. „Der Rollator ist jetzt mein Mercedes.“ 

Eigentlich möchte sie nicht fotografiert werden, lässt sich dann aber doch ablichten, gemeinsam mit Deen. Erst hinterher, beim Betrachten dieses Doppelporträts, kommt mir in den Sinn, dass ja beide Flüchtlinge sind.

Frau Hiller und Pfleger Deen

Deens gefahrvolle Reise über den halben afrikanischen Kontinent, übers Mittelmeer bis nach Deutschland, konnte ich im Laufe der Jahre erahnen, konnte sie mir aus Erzählsplittern, die nicht in diesen Text gehören, annäherungsweise zusammensetzen.    

Wie es für den damals 15-Jährigen gewesen sein mag, komplett auf sich gestellt zu sein, haben mir Momente erzählt, Erinnerungseruptionen im dunklen Auto, Tränen über eine geschenkte Jahreskarte, solche Sachen.

Während ich ihn an diesem Tag begleite, erzählt er seine Flucht in gewisser Weise zu Ende.

Ich bewundere, wie er mit den Bewohnern umgeht, bewundere seine Leichtigkeit, den aufblitzenden Humor – wohl auch, weil ich mir einbilde, um die hinter ihm liegenden Kämpfe zu wissen.

Eine meiner Lieblingsszenen: Im Flur breitet Deen die Arme aus, bis eine Dame mit Rollator herangerollt ist – dann klatschen sie sich ab.

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So berührend das alles ist – der Reporter in mir wird nervös. Bin ich auf die Insel der Senioren-Seligkeit geraten?     

Vor dem Fenster fällt mir jemand auf, der Laub zusammenkehrt. Ist der Mann unzufrieden? Kann er mir helfen, ein Haar in der Suppe zu finden? Aber auch Benjamin, eine Aushilfskraft des Arbeitsamtes, wie sich herausstellt, ist des Lobes voll: „Ich freue mich, wenn ich hier etwas tun kann. Die Leute sind superfreundlich.“

Bleibt noch, mich an Katharina Müller zu wenden, die Leiterin des Hauses. Ich klopfe an ihre Bürotür, erlebe eine Frau, die gerade telefoniert, währenddessen Papiere sortiert und mir auch noch einladend zunickt.

Wie sie ihren Führungsstil beschreiben würde, ob es ein Geheimnis gäbe, möchte ich wissen: „Ich arbeite gern mit älteren Menschen. Ich liebe meinen Job! Wie in jedem Beruf geht es um Hingabe, um Überzeugung.“

Eine Frau zeigt auf ein Bild an der Wand

Wir sprechen über ihre 115 Mitarbeiter: „Aktuell arbeiten bei uns 33 Nationen Hand in Hand.“ Kulturunterschiede würden im Alltag kaum eine Rolle spielen. Es gäbe diverse Sprachlevel. Das deutsche Essen schmecke nicht jedem. Alles in allem aber sei das Miteinander bereichernd. Auch Bewohner, die zunächst Vorbehalte hegten, kämen nach einer Weile zurecht, würden sich arrangieren. Wir tauschen uns über Deen aus. Seine Sozialkompetenz und der Wille, voranzukommen, eine pflegerische Ausbildung zu machen, seien beeindruckend. „Jetzt kommt es darauf an, was wir als Gesellschaft bereit sind, in Menschen, die eine solche Eignung mitbringen, zu investieren.“               

Frau Müller weist auf ein Gruppenfoto an der Wand: „Zwei unserer 27 Auszubildenden sind derzeit von Abschiebung bedroht.“ Sie ergänzt, dass Förderanträge zunehmend abgelehnt würden: „Einerseits ist der Fachkräftemangel riesig, auf der anderen Seite scheitert es an bürokratischen Hürden. Aber wir brauchen diese Menschen!“

Deen treffe ich erst am Nachmittag wieder, im weihnachtlich dekorierten Foyer. Er freut sich über den vor einer Woche bestandenen Einbürgerungstest und bekräftigt sein pflegerisches Grundprinzip: „Egal, was passiert, ob Bewohner gute oder schlechte Laune haben. Respekt ist das Wichtigste.“

Dann muss er los, denn: „Wir sind heute nur zu fünft. Ich helfe überall.“ Eine zackige Handbewegung – und er ist verschwunden.

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Dirk Brauns, Dezember 2025