Wallfahren für Anfänger


von Dirk Brauns
Um 3.30 Uhr soll es losgehen. Der Pfarrverband Mammendorf hat zur alljährlichen Wallfahrt nach Andechs eingeladen – für mich eine Premiere. Hinter einem hochgestemmten Jesuskreuz durch die Landschaft zu prozessieren, das war für mich bisher ein durchaus imposanter Brauch. Aber es selbst zu tun? Während ich durch das noch dunkle Adelshofen zur St. Michaelskirche stiefele, wo die „Aussendung“ stattfindet, möchte ich umkehren. Weiterschlafen. Aber seit meiner Wanderung von München nach Berlin im letzten Sommer gelte ich als weltlicher Pilgerer. Bei einem Dorffest hatte mich ein erfahrener Wallfahrer angesprochen. „Komm einfach mal mit. Niemanden interessiert, ob oder woran du glaubst.“  Und so marschiere ich nach einem Mut zusprechenden Gottesdienst mit etwa fünfzig Mitstreitern los.  

Vimeo

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Vimeo.
Mehr erfahren

Video laden

Ich ordne mich vorn ein, möchte nicht zurückfallen. Denn das Tempo ist hoch. Falls ich ein kontemplativ verträumtes Bummeln erwartet habe, liege ich falsch. Hier wird stramm ausgeschritten, so dass ich unweigerlich an die Gewaltmärsche meiner Militärzeit zurückdenken muss. Etwa dreißig Kilometer liegen vor uns. Aus dem Informationsblatt weiß ich um die Etappen und Verpflegungspausen. Logistisch und nur logistisch ähnelt dieser seit 1736 dokumentierte „jährliche Creuzgäng“ einem durchgetakteten Kommandounternehmen. Zur Sicherung der Strecke sind Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr dabei. Kinder und Jugendliche benötigen eine Aufsichtsperson. Und Versicherungsschutz besteht nur in der Gruppe. Die schriftliche Vorab-Warnung „Wer allein geht, zählt nicht zu unseren Pilgern und ist somit auch nicht versichert“ wirkte ein wenig schroff, hilft mir aber jetzt, dranzubleiben.

Aus den Gestalten um mich herum werden immer mehr Bekannte. Da es weiterhin schummrig ist, identifiziere ich sie am Gang. Nie zuvor konnte ich unseren Tierarzt so ausgiebig beobachten. Aufrecht schwebt er durch die Morgendämmerung. Im Wald hinter Jesenwang schiebt er sich resolut die Kapuze über, um sie wenig später, auf einem abschüssigen Weg, ebenso resolut wieder abzusetzen. Irgendwann erkenne auch meine Nachbarin Ruth – keine drei Armlängen entfernt. Mit ihren hellen Schuhen trippelt sie zackig voran. Und wendet an jeder Lichtung den Kopf, als würde sie etwas suchen.    

Das sind erste Assoziationen, nebenherlaufendes Kopfkino, nicht völlig belanglos, aber fast. Geht es den anderen ähnlich? Haben auch sie noch nichts gegessen? Fürchten sie, ihren Vorderleuten in die Hacken zutreten? Genießen sie es wie ich, von feuchten Gräsern am Wegrand sacht gestreift und erfrischt zu werden? Ich weiß es nicht und werde es vermutlich nicht herausfinden, denn zunächst einmal ist diese Unternehmung ein von Gebeten und Gesängen bestimmtes Ritual. 

Mit dem „Adelshofener Wallfahrerbüchlein“ – „den Erfahrenen als Hilfe und den Erstpilgern zur Orientierung“ habe ich versucht, mich vorzubereiten. Offenbar nicht genug, denn die gesprochene Praxis des Rosenkranzes verwirrt mich. Gehöre ich nun in Gruppe 1 und sollte „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und den Heiligen Geist“ sagen? Oder in Gruppe 2, die darauf zu antworten hat: „Wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen“. Mein Rosenkranz-Büffeln erweist sich als unzureichend. Wie ein Gebets-Trottel komme ich mir vor. Das Gefühl, sich hier eingeschlichen zu haben und nicht dazuzugehören, will sich zunächst nicht abschütteln lassen. Die biblischen Texte, von meinen Mitgehern laut und fest deklamiert, sie wehen durch die Dunkelheit und lassen mich unsicher vor mich hin brummeln. 

Es scheint niemandem aufzufallen. Vielleicht ist es ja auch egal, denke ich und beschließe, einfach ALLES mitzusprechen. Durch die dauernde Wiederholung der Texte ist es eh unmöglich, genau hinzuhören. Die Bedeutung scheint sich aufzulösen, obwohl die Worte da sind. Mit diesem Gefühl, mit dieser Erkenntnis kann ich mich entspannen. Inzwischen weht leichter Wind. Am Horizont zeigt sich Licht. Und plötzlich fühle ich mich hervorragend. Ich werde zum Wallfahrer, komme dem „Heiligen Berg“ Schritt für Schritt näher.

Ein paar Zahlen und Hintergründe:

Was ich hier tue, liegt im Trend. Die großen europäischen Pilgerrouten verzeichnen Jahr um Jahr Besucherrekorde. So strömten 2024, laut dem Pilgerbüro in Santiago de Compostela, fast eine halbe Million Menschen über den Jakobsweg. Wie der Andrang die ersehnte spirituelle Erfahrung beeinflusst, darüber schweigt die Statistik. Doch viele Wallfahrer haben (so wie ich) keine religiösen Motive mehr. Es geht um persönliche Sinnsuche, Naturbeobachtung, Entschleunigung und das Erlebnis von Gemeinschaft.

Der Boom lässt sich auch regional belegen.

Angaben der Pfarreiengemeinschaft Andechs zufolge wurde das Kloster auch 2024 wieder von etwa 30.000 Pilgern angesteuert. Die Zahl sei konstant hoch, würde in den letzten Jahren sogar zunehmen. Es kämen immer mehr Einzelpilger und vor allem jüngere Menschen. Angesichts dieser Entwicklung wirkt es auf den ersten Blick paradox, dass die etablierten Glaubensgemeinschaften derart ausdünnen. Allein der katholischen Kirche in Bayern kehrten 2024 über 87.000 (!) Mitglieder den Rücken. Auch der Glaube, dieser über Generationen festgeschriebene innere Fixpunkt, verändert sich. In der von Skandalen betroffenen Institution Kirche scheint er keinen Halt mehr zu finden und sucht buchstäblich neue Wege.

Vimeo

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Vimeo.
Mehr erfahren

Video laden

Vor Grafrath, mittlerweile sind zwei Stunden vergangen, wird es taghell. Den Rosenkranzgebeten folgen Lieder wie „Maria, breit den Mantel aus“ oder „Sag an, wer ist doch diese“. Die Titel werden von einem Sangesbeauftragten in die Gruppe gerufen. Ohne mein Wallfahrerbüchlein, das ich beim Gehen wie ein Notenblatt vor mich hinhalte, wäre ich aufgeschmissen. Lied für Lied schmettern wir in den Morgen. Dann hört auch dieser Programmteil unvermittelt auf. Alle fangen an, miteinander zu reden, zu plappern, zu plauschen, als würde sie nicht weitergehen, immer dem Kreuz hinterher, sondern bei Freunden auf der Terrasse sitzen. Ich gerate an Ruths Tochter Luisa, die mir einen Pfefferminzdrops hinhält. „Frische“, meint sie augenzwinkernd, „hilft beim Wachwerden“ Denn 3.30 Uhr, darin sind wir uns einig, bleibt eine „unmenschliche Startzeit“. Die 24jährige geht diese Wallfahrt zum zehnten Mal. Ihre Schuhe sind durchnässt, wohl vom Morgentau auf dem Gras. Aber das kümmert die Besitzerin wenig. „Ich liebe diese Schuhe. Sie sind leicht und bequem und halten schon ewig.“ Weil mir ihre faszinierende Fähigkeit, über Widrigkeiten einfach hinwegzusehen, so gut gefällt, treffe ich Luisa ein paar Tage später zum ausführlichen Interview. Mich interessiert die mentale Stärke, das Unerschütterlich-Wirken der jungen Christin. Gleich bei der ersten Frage werde ich allerdings korrigiert und muss lernen, meine Flapsigkeit zu zügeln. Denn für Luisa bleibt diese Wallfahrt auch bei der zehnten Teilnahme sehr besonders!

Vimeo

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Vimeo.
Mehr erfahren

Video laden

Um Punkt acht Uhr machen wir Rast in der Gemeinde Schlagenhofen. Zwei Drittel der Strecke sind geschafft. Helfer aus Adelshofen haben in einer Scheune des „Sieber-Hofes“ ein Frühstücksbüfett vorbereitet. Wiener, Weißwürste, Brezen, selbstgebackene Kuchen zu Kaffee, Tee oder Spezi.
Ich bin kein Weißwurst-Fan, aber wo schmeckt es besser als draußen, in netter Gesellschaft und mit Stolz machenden zwanzig Kilometern in den Beinen?

Weiter gehts. Bei idealem Wolkenwetter hinein in hügelige Wälder und Wiesen. In der Ferne taucht bereits Kloster Andechs auf. Das Staunen darüber, wie weit man zu Fuß kommen kann – ich kenne dieses schöne, die Landschaft vermessende Gefühl noch von meiner Deutschland-Wanderung. Es folgen die nächsten, gemeinsam gesprochenen Rosenkranzgesätze. „Freudenreiche … Lichtreiche … Schmerzhafte … Glorreiche Geheimnisse Jesu“ – ich versuche, die jeweiligen Passagen im Wallfahrerbüchlein zu finden, scheitere aber verlässlich und sehe mein Scheitern zunehmend gelassen. Mehr als Botschaften des Blutes, der Offenbarung, der Auferstehung usw. interessieren mich die Menschen um mich herum. Inzwischen murmeln viele, meine ich festzustellen, nur noch vor sich hin, mechanisch, in Endlosschleife. Geraten sie schon Trance?     

Eher nicht, denn aus mutmaßlichen Frömmlern werden nach dem absolvierten Gebets- und Gesangsteil wieder Linda, Sabine oder Alfons. Linda aus Nassenhausen zeigt mir einen Rosenkranz-Ring, ein Geschenk der Schwiegermutter. Der Fingerring mit seinen zehn Erhebungen würde helfen, beim Beten nicht durcheinander zu kommen. Anschließend reden wir über Spaziergänge, die sie an Sonntagen mit ihrem Mann unternimmt. „In weitem Bogen ums Dorf! So lüften wir unsere Köpfe von der Woche.“ Sabine aus Luttenwang lerne ich kennen, als ein Anstieg die Gruppe etwas auseinanderzieht. Sabines Vater, stellt sich heraus, wurde in Berlin geboren wie ich. Und so haben wir gleich ein Thema, reden über die Museumsinsel, die derzeitige Sperrung der Avus und bald auch über ihren kriegstraumatisierten Vater. Das auch außerhalb der Aktionszeiten sehr spezielle Gehen hinter dem Prozessionskreuz stiftet eine Atmosphäre des Erzählens und Zuhörens. Das hätte ich so nicht erwartet. Und finde es schön.  

Liegt es auch daran, dass fast niemand sein Handy benutzt? Nehmen hier alle bewusst eine Auszeit vom Üblichen? Ich beobachte eine Frau, die sich immer wieder bückt, um auf dem Weg liegende Weinbergschnecken aufzuheben und zur Seite zur legen. Es ist eine Kleinigkeit, nicht weiter erwähnenswert, könnte man meinen, aber ihr Bücken hat für mich Symbolcharakter.

Auch Alfons, der an der Spitze des Zuges gehende Kreuzträger, scheint nicht anzunehmen, etwas Außergewöhnliches zu tun. Ich arbeite mich zu ihm vor und frage, wie er die Schlepperei nur aushalten könne. „Ach“, winkt er ab, „unser Kreuz wiegt nur ein paar Kilo. Die Kreuze bei anderen Wallfahrten sind viel massiver und schwerer.“

Nach acht Stunden erreichen wir Andechs. Die unaufhörlichen Aktivitäten haben mein Zeitgefühl verschoben. Nach Alleinwanderungen hatte ich am Ende des Tages oft schwere Beine, war wie zerschlagen. Ganz anders jetzt. Ich fühle mich frisch und würde vermuten, allenfalls die Hälfte der Strecke und Zeit hinter mir zu haben. Auch die Fremdheit ist gewichen. Während wir betend und singend durch sonntagsstille Dörfer zogen, war mir das anfangs unangenehm. Den wenigen Frühaufstehern, die wir passierten, sah ich suchend ins Gesicht, meinte hochgezogene Brauen festzustellen, wollte mich für den Tumult am liebsten entschuldigen.

Von solchen Anwandlungen ist nichts geblieben. Wie selbstverständlich marschiere ich den „Heiligen Berg“ hinauf, der Eucharistiefeier in der Wallfahrtskirche entgegen, inmitten dieser bunten katholischen Truppe.

Vimeo

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Vimeo.
Mehr erfahren

Video laden

Defacto bin ich keiner der ihren und bin ich es defacto doch. Dreißig Kilometer Wallfahrt haben mich nicht bekehrt. Eine Erleuchtung ist ausgeblieben. Aber „wie beglückend es sein kann, sich gemeinsam auf den Weg zu machen“, wie es im Wallfahrerbüchlein heißt, das habe ich auch als mitlaufender Gast stark empfunden.               

Und vielleicht hat sich in mir ja doch etwas verschoben, fand eine schwer zu beschreibende Annäherung statt, denke ich Tage später, während des Interviews mit Luisa. Freimütig schildert sie mir ihren geistigen Weg, ihre Hinwendung zu Gott und die Lebenssouveränität, die sie daraus gewinnt.

Vimeo

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Vimeo.
Mehr erfahren

Video laden

Am Ende kann ich mir die Frage nicht verkneifen, wie einer Gläubigen wie ihr eigentlich unbehauste Naturen wie ich vorkämen.

Ihre Antwort hat mich verblüfft:

Vimeo

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Vimeo.
Mehr erfahren

Video laden

Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen habe ich die Namen einiger Mitwanderer verändert.